Im Rahmen einer kommenden Ausstellung habe ich die Gelegenheit, im Vorfeld ein typisches Beispiel meiner Arbeit auf einer Schulwandtafel zum Thema „Das tapfere Schneiderlein“ zu
präsentieren. Mit einem collagierten Bild illustriere ich eine Szene aus dem Märchen.
Je länger ich an der Collage arbeitete - Papiere sortierte, zurechtlegte, mit Nadel und Faden befestigte - desto mehr fiel ich ins Grübeln. Irgendwie
ist dieses Märchen anders: Es ist spröde, dem Helden und seinen Beweggründen anzunähern, ist schwer, die anderen Charaktere auch nicht liebenswert, ich empfand keine Empathie für die darin
beschriebenen Menschen. Warum hat die Geschichte mich nicht mitgenommen, mich nicht bangen und hoffen lassen?
Das Märchen lässt sich kurz zusammenfassen. Ein Schneider erschlägt Fliegen, die sich, während er seinen Arbeitsvorgang gerade zu Ende bringt, auf seinem Essen niedergelassen haben. Überrascht ist er selbst von seiner Tat, die er als Akt großer Tapferkeit bewertet. Er beschließt, diese Tatkraft der Welt zu zeigen und bricht auf. Was treibt diesen kleinen Mann – seine Statur wird immer wieder betont – sein Schneideratelier auf unbestimmter Zeit zu schließen, um aufs Geratewohl loszuziehen?
Vor seinem Aufbruch hat er sich einen Gürtel genäht, verziert mit dem Spruch „Sieben auf einem Streich“, den er sichtbar trägt. Er erweist sich als Meister der Täuschung, denn alle glauben, es sind sieben Menschen, die er erlegt hat. Das Accessoire scheint gleichzeitig als Amulett zu dienen, das ihm hilft, die Gefahren furchtlos zu überwinden, die ihm auf seinen Wanderungen begegnen.
Die Geschichte folgt dem Muster vieler Märchen: Es gelingt einem Menschen aus einer unteren gesellschaftlichen Schicht dank seiner charakterlichen Eigenschaften der Aufstieg zum Adelsstand. Was an körperlicher Kraft oder am gesellschaftlichen Ansehen fehlt, wird durch Mut und List kompensiert. Nach insgesamt sieben Herausforderungen (eine Zahl, die in der Bibel und vielen Erzählungen von Bedeutung ist), die er mit scheinbarer Leichtigkeit meistert, wird das Schneiderlein zum König ernannt und darf die Königstochter heiraten.
Die einfache Erzählweise wirft viele Fragen auf, und zwar in allen Versionen, die Details unterscheiden sich nur geringfügig. In der Grimm’schen Niederschrift ist zu lesen, dass das Schneiderlein
den Drang spürt, aus der Enge seiner Werkstatt zu entfliehen. Erklärt dieses Gefühl auch den Jähzorn, der in ihm aufsteigt im Anblick der Fliegen, und die Wucht, mit der er sie erschlägt? Mit dem
Schneiderberuf assoziiert man, neben handwerklichem Geschick und Genauigkeit, eher Geduld und Gleichmut. Weshalb gibt das Schneiderlein kurzentschlossen seine Existenzgrundlage auf?
Er ist sichtlich von Abenteuerlust gepackt, auch von großem Geltungsdrang. Ich schließe Selbstfindung aus, Hauptmotivation von Helden (es sind immer Männer!) pikaresker Erzählungen, denn er
zögert und zweifelt nicht. Er erfährt keine charakterliche Weiterentwicklung, wird nicht reifer. Im Gegenteil, er stürzt sich wagemutig in jedes bedrohliche Szenario, ohne selbst Schaden zu
nehmen oder gar körperliche Kraft anwenden zu müssen. Sein spontaner Gewaltausbruch trifft ausgerechnet Fliegen, winzige Wesen, die er ekelig findet, aber vor denen er, im Gegensatz zu den Riesen
und Schurken, die ihm eine unmittelbare Gefahr sind, keine Angst haben dürfte.
Zum Schluss gemerkt: Sympathisch ist dieser Mann nicht, mir nicht und den Figuren des Märchens auch nicht. Der König bietet an, zunächst begeistert, ihn in den Adelsstand zu heben. Als Bedingung
dafür, und für die Hand seiner Tochter, muss das Schneiderlein eine wichtige Aufgabe erfüllen, was ihm natürlich gelingt. Trotz erster Versprechen bekommt der König doch Bedenken und stellt immer
wieder neue Aufgaben und schiebt die Angelegenheit immer weiter hinaus. Widerwillig muss er am Ende das Schneiderlein zum König erklären.*
Auch die Königstochter scheint über die Heirat gar nicht glücklich zu sein - nicht ungewöhnlich, denn ohnehin wurde die Frau bei arrangierten Ehen generell nicht gefragt - aber zum Überdruss
entdeckt sie, dass ihr neuer Gemahl Handwerker ist. Dem Schneiderlein wird eine Falle gestellt, abermals kommt er unversehrt heraus, was jedoch weit entfernt vom Happy End ist, der in Märchen
üblicherweise nach Aufstieg und Heirat eintritt. Offensichtlich gewinnt unser Held keine Herzen, nie ist von Glück und Zuneigung, geschweige denn von Liebe zu lesen.
Es kommt mir vor, dass sowohl König als auch Prinzessin sich grimmig und zähneknirschend mit der Situation arrangieren.
Wie sehen Kinder dieses Märchen? Taugt es als Gute-Nacht-Geschichte? Würden mir Kinder eine neue Sicht auf dieses Männlein und seine Abenteuer geben?
*Anmerkung zur Thronfolge: "Es geht hier um die Geschichte einer matrilinearen Erbfolge, in der die Krone über die Töchter vererbt wird und nicht an die Söhne geht, sondern an die Töchtergatten." (Wikipedia)

